23. Februar 2013

Mailbox.app: mein Dialog mit einem Hater

Mailbox Icon

Wer sich nur ein bisschen für E-Mail oder den aktuellen Buzz rund um neue Apps interessiert, hat sicherlich von Mailbox gehört. Letztes Jahr in einem Video schmackhaft gemacht, wird es seit 2 Wochen ausgerollt[1]. Ich bin aktuell in der Warteschlange kurz unter 34.500.

Mir sind auf Google+[2] viele Kommentare über den Weg gelaufen, die Verschiedenes an der App auszusetzen haben. Ich habe immer brav meinen Senf dazu gegeben, aber jetzt ist es soweit, dass ich auch hier im Blog etwas darüber schreiben möchte. Dazu werde ich mir die gängigen Kritikpunkte greifen und ein wenig zerpflücken 😀

1. Enno, was soll das mit der Warteschlange? Da wird doch nur künstliche Knappheit geschaffen!!!einself

Der Gedanke liegt zugegebenermaßen nicht allzu fern. Ich protze mal mit 9. Klasse BWL-Wissen: ein Preis ergibt sich aus Angebot (also verfügbare Güter) und Nachfrage. Wenn die Nachfrage steigt, steigt auch der Preis. Wenn das Angebot aber steigt, sinkt der Preis. Darum werden z.B. hin und wieder auch einfach mal Lebensmittel vernichtet – um das Angebot zu drücken und somit den Preis zu steigern.

Wenn du Leute neugierig halten willst, bewahre Geheimnisse. Mach sie heiß und zeig nicht zu viel auf einmal. Stichwort Invite-System.

Die Warteschlange ist im Fall von Mailbox pragmatischer Natur

Bei Mailbox ist das aber ein wenig anders. Man will das eigene System an die aufkommende Last gewöhnen. Was heißt gewöhnen in diesem Fall?

Mit zunehmender Server-Last sind Maßnahmen nötig, um jene Last zu verteilen. Sowas lässt sich schwer testen. Ein Sanfter Rollout verhindert, dass zu viele Benutzer von Ausfällen Schäden nehmen und man die Grenzen seines Systems recht präzise bestimmen kann. Das Aufnehmen weiterer Benutzer kann gestoppt, der Fehler isoliert betrachtet und aus der Welt geräumt werden.

Ist übrigens keine Erfindung von Mailbox. Schau dir nur an, was Twitter derzeit mit dem Tweet-Archiv macht. Da spricht auch keiner von künstlicher Knappheit 😉

Warteschlangen für einen sanften Rollout sind gängig – Transparenz nicht

Sanfte Rollouts und die daraus resultierenden Warteschlangen sind gängig und notwendig. Vielerorts wird das über Beta-Registrierungen, Invites o.ä. gelöst. Mailbox hat hier einen transparenteren Weg gewählt. Dir wird live angezeigt, wie viele Benutzer noch vor dir in der Warteschlange sind.

Natürlich birgt das auch Frustrationspotential, da man sieht, wie lange es noch dauert, bis du Mailbox ausprobieren darfst. Aber du hast die Gewissheit, dass und (in etwa) wann du zum Zuge kommst. Beim einfachen Bestätigen einer E-Mail-Registrierung hörst du zwischen “Sie haben sich erfolgreich registriert, wir werden Sie benachrichtigen, sobald Sie für unsere App zugelassen sind.” und “Hier ist Ihre App-Zulassung” genau gar nichts.

Ich mag diese Art des Rollouts sehr.

2. Ach komm, die Warteschlange ist unnötig. Heutzutage muss man doch wissen, wie eine Server-Infrastruktur für Cloud-Dienste auszusehen hat.

Erstmal: danke für deine Arroganz 😉 Aber nein, dem ist absolut nicht so. Cloud-Dienste sind die Herausforderung unserer Zeit. Hatte ich schonmal geschrieben. Es reicht nicht bei Überschreitung einer gewissen Anzahl Anfragen einfach einen zweiten Server neben den Bisherigen zu stellen.

Wäre das alles so einfach, hätten große Player wie Twitter, Tumblr, HP (TouchPad Firesale), 6 Wunderkinder (Wunderlist 2) und sogar Google (Nexus 4) nicht immer wieder Probleme damit. Dafür brauchst es Brain und nicht nur Geld. Und mit Brain meine ich Erfahrung. Man kann nicht einfach 100.000 zufällige Nutzer testen, die zu zufälligen Zeiten zufällige Daten eingeben.

Was Boromir sagen würde

Was Boromir sagen würde

Studieren > Probieren

Die Mailbox-Warteschlange zeigt hinter mir ca. 750.000 Leute an. Ich schätze die Anzahl der Gesamtregistrierungen mal – pessimistisch – auf so 1 Millionen. Hätte Mailbox von Anfang an alle Benutzer ohne Umwege zugelassen, hätten sie also 1 Millionen Leute gehabt, die von jetzt auf gleich immer mal wieder auf ihre Mailbox zugreifen.

Ok, vermutlich würden die Nutzer nicht alle gleichzeitig kommen. Aber vielleicht 10.000, 20.000, 30.000 oder auch viel, viel mehr? Und wenn ich dir jetzt sage, dass Caschy auf Twitter[3] erwähnt hat, dass sein Server, auf dem einer der meistbesuchten Techblogs Deutschlands läuft, gelegentlich bei 200 gleichzeitigen Benutzern abkackt, kannst du das hoffentlich in Relation setzen.

Things haben an ihrem Cloud-Sync übrigens 2 Jahre gesessen. Sicherlich haben sie auf dem Weg dahin ein paar Benutzer verloren, einfach wegen der langen Wartezeit. Doch sie waren sich darüber im Klaren, dass der Kram funktionieren muss. Tasks sind wichtig, da darf nichts schief gehen. Benutzer verlassen sich auf ein System, das ihr Hirn entlastet. Wenn im ausgelagerten Hirn etwas verloren geht, hat man ein Problem.

Things Cloud Sync

Things Cloud Sync

Darum haben sich die Stuttgarter Zeit genommen. Ausgiebig testen und testen lassen. Internes Testen, Private Beta, Public Beta und dann Release. Zwischen jedem dieser einzelnen Schritte lagen ungefähr 6 Monate[4]. Sie haben sich vom Druck der Öffentlichkeit nicht von ihrer Strategie abbringen lassen. And guess what: ich hatte genau nie Probleme damit. Um das über irgendeinem anderen Cloud-Sync sagen zu können, müsste ich eine Weile überlegen.

Eine Server-Infrastruktur für einen Cloud-Service kann man sich nicht bei GitHub herunterladen. Darin steckt harte Arbeit und eine Menge Hirnschmalz. Nur weil jeder überall Cloud schreit, heißt das nicht, dass es jeder kann.

3. Aber Mailbox hatte einen Ausfall! In dieser Zeit hatte ich keinen Zugriff auf meine E-Mails! Was wenn, das öfter passiert?

Bitch, please. Mailbox setzt auf Gmail auf und ersetzt es nicht. Wenn Mailbox nicht läuft, ist Gmail trotzdem verfügbar. Wenn du dich bei Mailbox registrierst, was denkst du dann, was passiert?

Hey Google, Mailbox hier. Wir haben hier eine Registrierung von Max Mustermann. Meldet den mal bei euch ab, ab jetzt kümmern wir uns um all seine Mails.

Wenn Mailbox ausfällt, steht es dir frei die Gmail-App als Fallback zu verwenden. Oder die Apple-eigene Mail-App. Aber verbreite nicht solchen Schwachsinn.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass Mailbox sofort und transparent auf Twitter über den Ausfall und den Bearbeitungsstatus informiert hat. Die Leute haben seit Juli 2012 über 15.000 Tweets abgefeuert. Sie lassen dich mit Problemen nicht allein.

4. Ich werde Mailbox nicht benutzen. Die App kann nichts, was die Gmail-App nicht auch kann.

  1. Stimmt nicht.
  2. Alles, was man mit der Gmail-App auch machen kann, dauert länger.

Es geht in Mailbox darum E-Mails schnell zu verarbeiten. Darum kann man mit einer Geste eine Mail archivieren, löschen oder auf später verschieben. All diese Schritte benötigen in Gmail 2–3 Taps. Davon abgesehen hast du die Funktionalität des Verschiebens auf später in Gmail nicht. Nur um deine These in Gänze zu widerlegen.

Jetzt kannst du kommen und argumentieren, dass der Zeitunterschied zwischen 3 Taps und einer Wischgeste nicht sonderlich groß ist. Dann bist du aber auch die Art von Benutzer, die für das Kopieren von Text RechtsklickKopieren wählt, statt ⌘C zu drücken. In diesem Fall fehlt uns beiden eine Diskussionsgrundlage 😉

5. Und was ist mit der Sicherheit meiner Daten? Ich vertraue einem unbekannten Unternehmen doch nicht meine Zugänge und E-Mails an!

Ich finde es schlimm, dass selbst bei Netz-affinen Menschen diese Thematik immer wieder aufkommt. Es ist richtig und wichtig vorsichtig mit seinen Daten umzugehen. Aber zu viel Misstrauen bremst Innovationen. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Wer nur die Gute sieht, ist genauso verloren, wie der, der alles von vornherein ablehnt wegen möglicher Gefahren.

Aber genug der Phasenschwingerei, werden wir mal konkret. Mailbox setzt auf Gmail auf. Das heißt du als Gmail-Nutzer hast Angst vor jemandem, der mit deinen Daten was macht? Sie verkauft?

Korrigiere mich, aber soweit ich weiß verdient Google Geld mit deinen Daten, indem es sie auf’s Ordentlichste analysiert und die daraus gewonnenen Informationen zur Optimierung von Werbung nutzt. Aber natürlich verkaufen Sie deine Daten nicht.[5]

Dazu kommt, dass ich dieses Argument bei Google+ las. Im sozialen Netzwerk von Google. Aber bei Google+ lässt du auch nur Daten, die Google nicht für den eigenen Umsatz nutzt.[6]

Schwarz und Weiß in der Welt der Datensammlerei

Google ist eine Datenkrake, soziale Netzwerke sind Datenkraken. Das hat Vor- und Nachteile. Vorteile sind die bessere Personalisierung, egal ob es um Werbung, Empfehlungen ähnlicher Benutzer oder Interessen geht. Nachteil ist allerdings, dass diese Daten eines Tages gegen dich verwendet werden könnten. Oder generell auf eine Art, die dir nicht gefällt, gegen die du aber nichts tun kannst.

Wäge beide Seiten für dich ab und entscheide für dich, wie du handeln willst.

Ich selbst sehe das bei Mailbox recht unkritisch. Meine Zugangsdaten brauchen sie, um auf mein Gmail-Konto zuzugreifen. Macht Sinn, wenn ich einen Gmail-Client installiere. Speichern müssen sie diese Daten sowie alle einkommenden Mails, um Email nicht über IMAP sondern Node.js[7] ausliefern zu können. Und für die ganze Erinner-mich-später-Magic. Das ist technisch nicht anders umzusetzen, es sei denn man nimmt Performance-Einbußen in Kauf.

Außerdem: Mailbox ist neu und braucht Vertrauen. Die Jungs und Mädels von Orchestra werden sich hüten mit meinen Daten irgendwas Mieses anzustellen. Spricht sich das rum, wird keine Sau mehr Mailbox benutzen.

So zumindest meine hoffentlich nicht allzu naive Meinung dazu.

6. “Mailbox ist kostenlos für Benutzer. Und die Architektur dahinter scheinbar nicht ohne. Wie verdienen die Geld, wenn nicht durch das Verkaufen meiner Daten?”

Endlich mal eine halbwegs berechtigte Frage 😉 Die Welt der modernen Startups funktioniert so:

  1. Coole Idee haben
  2. Coole Idee Leuten präsentieren, die Geld haben
  3. Geld kriegen
  4. Kritische Masse an Benutzern erreichen
  5. Geschäftsmodell überlegen
  6. Geld verdienen

Mailbox muss also erst einen bestimmten Mitgliederstamm erreicht haben, um sinnvoll Geld verdienen zu können. Man versucht über eine geringe Eintrittsbarriere (z.B. kostenlose App) so viele Nutzer zu erreichen wie möglich. Dadurch kann man auch Leute vom eigenen Dienst überzeugen, die Mailbox nicht probiert hätten, wenn die App z.B. 1,79€ gekostet hätte o.ä.

Ich tippe bei Mailbox ganz stark auf ein Freemium-Modell. Es wird Features geben, für die man bezahlen muss. Das ist nichts anderes als das, was z.B. Evernote macht. Ein erstklassiger Dienst, der für einen monatlichen Betrag noch ein bisschen besser wird (mehr Speicherplatz, schnelleres Scannen von Bildern und PDFs, etc.).

Erfahrungsgemäß halten ca. 5% der Nutzer dieses Geschäftsmodell am Leben, nämlich diejenigen, die für die Premium-Features bezahlen. 5% der Nutzer finanzieren dann also den kompletten Service. Klingt im ersten Moment ein bisschen wenig, ist aber nicht unüblich. Und so wird es – so zumindest meine Vermutung – auch bei Mailbox sein.

Damit diese 5% aber eine möglichst große absolute Nutzerzahl ausmacht, braucht man natürlich viele, viele, viele Nutzer. Und die bekommt Mailbox – und jetzt schließt sich der Kreis – durch das kostenlose Anbieten der App.

7. “Das ist ja alles schön und gut, aber ich habe Mailbox getestet und kann nur jedem davon abraten. Es bringt den kompletten Posteingang durcheinander.”

Langsam wird’s haarig. Hättest du dich vorher informiert, hättest du herausgefunden, dass Inbox Zero das zugrundeliegende Prinzip hinter Mailbox ist. E-Mails sollen delegiert werden. Eingehende Mails werden umgewandelt in Aktionen und zwar zeitlich eingeordnet: entweder

  • jetzt (a.k.a. do it fucking now)
  • ein zu bestimmender Zeitraum in naher Zukunft (z.B. nächsten Dienstag),
  • irgendwann (also ein unbestimmter Zeitraum) oder
  • gar nicht (=E-Mail löschen).

Das ganze stammt von Merlin Mann, dem sowieso für so ziemlich alles, was er tut, höchster Respekt gebührt. Man muss es nicht ganz genauso machen, wie Merlin, aber man kann sich einige Aspekte abschauen und für sich selbst entdecken. Carsten z.B. hat auch etwas zum Thema geschrieben, klingt auch nicht verkehrt.

Wenn du natürlich – so wie immer noch sehr, sehr viele – deinen Posteingang als eine Art To-Do-Liste benutzt und mit dem Status (gelesen/ungelesen) deine E-Mails priorisierst, dann ist Mailbox für dich genauso nützlich wie ne Heizung im Hochsommer.

Wenn du zu diesen Leuten gehörst, dann bitte ich dich aber um 3 Sachen:

  1. Erklär mir dein System und begründe, warum es für dich funktioniert. Ich bin immer sehr interessiert an anderen Workflows.
  2. Hör auf Mailbox.app in Betracht zu ziehen. Wer lieber einen Twingo fährt, sollte andere nicht von einem Q7 abraten, weil er zu groß ist.
  3. Stell dein System um, vermutlich funktioniert es nicht 😛

Fazit

Sorry, für den langen Text, aber das alles musste mal raus.

E-Mail ist genauso alt wie das Internet selbst und befindet sich endlich im Umbruch. Weniger, schneller, moderner. Gmail und Sparrow tragen ihren Teil dazu bei, aber auch auf angekündigte Desktop-Clients wie Dotmailapp freue ich mich.

Dass ich mit Mailbox diesen Umbruch jetzt auch auf meinem iPhone erleben kann, lässt mich vor Euphorie nur so strotzen. Wenn es nicht dein Ding ist, mach es weder mir noch anderen madig.

Bitte.

Danke.


  1. Julia hat ein sehr tolles Review dazu geschrieben, das du lesen solltest.  ↩
  2. Hier eine zu empfehlende Community und hier eine zweite, die eher okay-ig ist.  ↩
  3. Dem ich auf diesem Wege alles Gute zu seinem Ehrentag wünschen möchte. Lass krachen, Jung 🙂  ↩
  4. Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt.  ↩
  5. Falls die Fühler bei dir nicht anschlagen: Sarkasmus 😉  ↩
  6. Das auch 😀  ↩
  7. Wenn ich mich nicht verlesen habe, suchen sie Node-Ingeneure, weswegen ich davon ausgehe, dass die Architektur darauf basiert. Macht auch Sinn, wenn man eine ganz leise Ahnung davon hat, wie Node funktioniert. Sorry für den technischen Einschub.  ↩

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